10 März 2006

Sweet Dreams


Ich kenne einen Millionär, der verbringt freiwillig seine Zeit am schrecklichsten Ort dieser Welt.

Der schrecklichste Ort dieser Welt ist eine Kneipe. Die Kneipe hat einen Spitznamen: 'Friedhof'. Das sagt alles.

Der Millionär ist blitzgescheit. Er hat Physik studiert. Dann hat er geerbt, und seither sitzt er im Friedhof und trinkt.

Morgens um neun kommt er. Er bestellt ein Bier und sieht den Arbeitern beim Kaffeetrinken zu.

Es macht Spass, mit ihm zu reden. Sein Lieblingsthema ist: Ameisen.

"Wenn du den Ameisen erzählst, was du so treibst, die würden sich kringeln vor Lachen", sagt er. Und: "Ameisen sind klug. Es gibt einen Ameisenstamm, der zieht sich von Gibraltar bis St. Petersburg. Oder umgekehrt, das weiss niemand so genau."

Wenn der Friedhof schliesst, wankt er nach Hause und lacht immer noch. Wahrscheinlich über die Ameisen.

In der Nacht kann er nicht schlafen. Dann repariert er alte Uhren. Aber morgens um neun sitzt er wieder im Friedhof. Pünktlich.

Er könnte in einer Villa am Meer wohnen. Er könnte auf einem Schiff über das Meer fahren. Schliesslich ist er Millionär. Er könnte seine Ameisen besuchen und von Gibraltar nach St. Petersburg wandern. Oder umgekehrt.

Aber er sitzt lieber morgens um neun im Friedhof.

Ich habe ihn fünfzehn Jahre nicht gesehen. Heute habe ich an ihn gedacht. Keine Ahnung, warum.

Das letzte Mal, als ich ihn sah, habe ich ihn nach Hause gebracht. Weil er nicht mehr gehen konnte, ohne sich die Nase zu brechen. Er war leicht wie eine Strohpuppe. Vor seiner Haustüre setzte ich ihn ab.

"Süsse Träume", sagte ich.

"Wenn ich träumen könnte", lacht er, "wozu sollte ich dann noch saufen?"

Ich weiss nicht, ob er noch lebt. Wahrscheinlich ist er schon tot. Gut möglich. Aber heute habe ich an ihn gedacht.

Ich hatte ihn gern.

13 Kommentare:

Mone hat gesagt…

Millionen sind nutzlos für die Seele...denn dort sitzt der Schmerz...

Anonym hat gesagt…

ich mag solche geschichten. solche menschen auch. die im gedächtnis bleiben, entgegen jeder erwartung. nicht weil sie so toll sind. sondern weil sie so mensch sind. mit all den liebenswürdigkeiten ihrer fehler. ich kenne auch solche. und manche mag ich so richtig gern.
danke für die geschichte.
guten morgen, mel. gut geschlafen? :-)

Petra hat gesagt…

ich müsste wahrscheinlich a) älter werden, um so etwas erleben und erzählen zu können oder b) eine feinere fantasie entwickeln. gefällt jedenfalls wieder sehr. ob nun erdacht oder erlebt.

und: einfach nach 'traum' gegooglet oder gezielt das bild genommen? tolles bild. nämlich. auch ohne ameisen.

Melville hat gesagt…

guten morgen, mädels :)

ja, geschlafen hab ich ganz gut, danke der nachfrage. und selber?

übrigens, petra, bin ich überzeugt: deine fantasie ist so fein wie seiden-unterwäsche. was das bild angeht: viel fetischistischer. lange gesucht, dann schliesslich kleinen ausschnit genommen aus einem bild von rousseau. aber wirklich tolles bild.

erfunden ist die geschichte nicht.

Anonym hat gesagt…

....true.

Erinnert mich an den verwitweten Rechtsanwalt mit dem
ich neulich soff.

Er hatte eine tüte voller Becksdosen dabei, falls er
nach dem Kneipenbesuch noch nicht einschlafen könnte.

....zu späterer Stunde bot er mir eine Luger zum Kauf an.

- WeirdFolksregierung.

Petra hat gesagt…

mel, ich kenn' das bild sehr gut.
und hey, umso toller, dass die ameisen echt sind. also muss ich einfach älter werden. und mehr menschen treffen.

Melville hat gesagt…

ist ja irre, waffenhändlerregierung. wo hatte er die denn her, die luger?

tschuldigung, schmitzchen, hab ich eulen nach athen getragen. wasser in den rhein geschüttet. sonnenbrillen im darkroom verkauft, was?

Petra hat gesagt…

[klugscheiß]
naja, das bild mit den sonnenbrillen passt nu nich ganz. augenbinden hätten es wohl werden sollen. aber mit sonnenbrillen klingt es cooler, zugegeben.
[/klugscheiß]

Anonym hat gesagt…

Feines Textgewebe.

Anonym hat gesagt…

Vielleicht lebt er ja auch noch.
Prost.

Anonym hat gesagt…

Schön geschrieben. Schlicht und Einfach aber Einfachheit ist ein Talent.

Anonym hat gesagt…

Menschen auf dem friedhof kenn ich viele, mit und ohne Millionen...
Komisch dass ich da auch immer bin...

Anonym hat gesagt…

So, der dritte späte Kommentar: Die hohe Kunst der Lakonie, wunderbar. Ich les gerade den Faust, da braucht der Kortex mal ne Pause.

Denn ich sag es dir - ein Kerl, der spekuliert (Anm. der Moderne: zu viel nachdenkt),
ist wie ein Tier auf dürrer Heide,
von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
und ringsumher liegt schöne grüne Weide.

Gruß ... Mephistos Faust jesse