17 Juli 2006

Schlaf gut!



Nacht. Das Zimmer ist dunkel. MELVILLE starrt müde in den Bildschirm. Er zögert, dann zieht er sich einen kleinen Fisch aus dem Ohr und lässt ihn vorsichtig in ein Wasserglas gleiten. Er lehnt sich zurück, zündet sich eine Zigarette an und…


…zuckt zusammen: In der Ecke, auf dem Stuhl, sitzt JEMAND!

Melvilles Blut flockt auf und zischt wie kochende Säure durch seinen Körper. Die Person auf dem Stuhl ist ziemlich klein. Das Gesicht kann Melville nicht erkennen, wohl aber ein Augenpaar, dass sich weiss in die Dunkelheit brennt.

KIND: Hallo.

Melville zögert und sieht genauer hin. Dann entspannt er sich etwas und atmet tief durch.

KIND: Ich habe dich erschreckt.
MELVILLE: Du warst lange nicht mehr hier.
KIND: Du hast lange nicht mehr an mich gedacht.

Stille.

KIND: Soll ich gehen?
MELVILLE: Du bist gewachsen.
KIND: Kinder wachsen.

Melville nickt. Das Kind baumelt mit den Beinen.

KIND: Neun.
MELVILLE: Was?
KIND: Du hast gerade nachgerechnet.
MELVILLE: Ja.
KIND: Wie alt ich bin.
MELVILLE: Du meinst: Wie alt du wärst.

Stille.

MELVILLE: Entschuldigung. Das war unnötig.
KIND: Wenn's hilft.
MELVILLE: Wir waren jung. Ihre Entscheidung stand von Anfang an fest. Du hattest keine Chance.
KIND: Ich weiss. Du hast es mir erklärt.
MELVILLE: Zellteilung. Ein kleiner Zellklumpen. Ein bisschen Osmose.
KIND: Ja.
MELVILLE: Ich dachte, es macht mir nichts aus.
KIND: Aber dann habe ich mit dir gesprochen.
MELVILLE: Wie hast du das gemacht?
KIND: Papa…
MELVILLE: …hast du gesagt. 'Papa. Hilf mir.'
KIND: Papa!
MELVILLE: Ich will dir nicht helfen.
KIND: Hilf mir!
MELVILLE: Ich kann dir nicht helfen!

Stille.

KIND: Ich wäre jetzt in der dritten Klasse.
MELVILLE: Wahrscheinlich wärst du eine freche Pestbeule.
KIND: Ich hätte einen Hund.
MELVILLE: Vergiss es, Kind.
KIND: Bitte! Ich würde mich auch um ihn kümmern.
MELVILLE: Naja. Mal sehen.
KIND: Danke.

Das Kind lächelt und lässt eine Kaugummiblase platzen. Melville lächelt zurück.

KIND: Du bist müde.
MELVILLE: Nein.
KIND: Du bist müde.
MELVILLE: Bleib noch ein bisschen.
KIND: Selbst schuld.
MELVILLE: Ja.
KIND: Schlaf gut.

Das Kind geht. Melville sitzt allein in der Dunkelheit.

MELVILLE: Schlaf gut.

19 Kommentare:

Petra hat gesagt…

ich hasse es, dass schon wieder ich es bin, die hier als erste was äußert, aber ich kann mich ja nur schlecht beherrschen. du weißt das.
also, hosenrunterlass-kommentar: bester melville, fies gut. weil: nach lesen das bedürfnis gehabt, jemanden zu wiegen. ich kann aber wirklich nicht sagen, wen genau. vermutlich beide.
(genau mein alter ist manchmal der teufel.)

Anonym hat gesagt…

Inspirierend - was das Schreiben betrifft.

Anonym hat gesagt…

sprachlos...

Mone hat gesagt…

its a never ending story... sad...
happy birthday...to whoever you would have been

Anonym hat gesagt…

da muss der fisch erst mal gehen. denn das ist nicht übersetzbar.

Melville hat gesagt…

wahrscheinlich ist der fisch froh, dass er aus der ganzen sache rausgehalten wird. so oder so: mel fühlt sich gewiegt.

Petra hat gesagt…

gut.

Matt Wagner hat gesagt…

Irgendwie fühle ich mich an „The sixth Sense“ erinnert. Und das ist alles andere als beruhigend.

Melville hat gesagt…

ja, tatsächlich. daran fühlte ich mich auch erinnert.

Springfloh25 hat gesagt…

Glücklich der, der keine nächtlichen Besucher hat - in seiner Schlichtheit auf den Punkt gebracht - Chapeau!

F hat gesagt…

Geht die Serie noch weiter und läuft dann auf Ally McBeal zu?

Melville hat gesagt…

ich hab ally mcbeal nie gesehen.

Anonym hat gesagt…

Traurig :'(

Anonym hat gesagt…

kauf ihm den hund, lieber, lieber melville. er wird sich freuen...

Anonym hat gesagt…

Ein Kind kam in der Nacht zu mir, im Traum,
Und sagte: 'Weil ich reisen muß,
So kam ich heute.'

Ich fühlte einen sanften Kuß,
Doch als ich's näher zog, war es ein Baum,
Der auf mich seine Blüten streute.

Es sprach der Baum: 'Nun ist's geschehn,
Nun hast du alle Huld genossen,
Du wirst mich nie mehr wiedersehn.'

Erschüttert rief ich: 'Wen?'
Ein altes Buch schlug auf, doch war's nur eine Gruft,
Und während meine Tränen flossen,
Erwachte ich von einem starken Blumenduft.

Berthold Viertel (1885-1953): Ein Traum)

Anonym hat gesagt…

Direkt durch alle Mauern mitten ins Herz.

Piano hat gesagt…

Hm...ich hätte vermutlich genau das gleiche getan.

Minka hat gesagt…

unheimlich. traurig. wahnsinnig schön.

Anonym hat gesagt…

wow man hamma. Hab ma ein Buch gelesen. auch darin redete die frau immer mit ihrem "kind". irgendwas mit d.. hab seinen namen vergessen. schlimme sache