06 Februar 2007

Von Wölfen

Runde, immer geputzte Scheiben. Ihr sitzt mitten drin, auf einem der belebtesten Plätze der Stadt, und könnt euch beim Kaffeetrinken die Menschen ansehen, die draussen ihr Leben durch die Kälte tragen.

Mein eigenes Leben habe ich auf den Stuhl unter meinem Hintern gesetzt und denke darüber nach. Ich war unglücklich, in letzter Zeit, und habe versucht, mich wegzuwerfen wie ein benutztes Taschentuch. Mit wachsender Faszination habe ich dabei zugesehen, wie ich mich in den Dreck drücke; ihr wisst ja: Das entwickelt so einen Sog. Hat man einmal damit angefangen, will man gar nicht mehr aufhören.

Dann hab ich lange geduscht.

Jetzt sitze ich hier und rappel mich auf. Und ich sehe eine Frau. Nein, nicht hübsch. Sie hat sich eingepackt wie eine Pellwurst, steigt aus einer Strassenbahn und sucht zügig das Weite. Zu zügig, denn sie stolpert über ihre eigenen Beine, fällt hin und purzelt über den Teer; quer durch die auseinanderstiebenden Passanten. Kaum geschehen, steht sie sofort wieder auf und geht weiter, ohne eine Miene zu verziehen. Als wäre nichts geschehen.

Das sehe ich immer wieder mal, und ihr auch. Jemand fällt, weil es glatt ist oder er gerade nicht aufpasst oder weil er von einem Fahrrad angebumst wird. Und immer stehen die Beteiligten sofort - reflexartig - wieder auf. Manchmal lächeln sie. So oder so vermitteln sie den Eindruck, eben: Als wäre nichts geschehen.

In Tierrudeln, beispielsweise bei Wölfen, kann man Folgendes beobachten: Langer Marsch, klirrende Kälte, alle Tiere sind müde und schleppen sich mühsam durch die Schneewehen. Plötzlich tritt ein Wolf auf einen Dorn und fängt an, zu hinken. Wölfe sind sehr soziale Tiere, sie unterstützen ihren verletzten Kollegen also mit aufmunterndem Heulen, Lecken etcetera. So geht das eine Weile, tage- oder auch wochenlang, bis der verletzte Wolf stehenbleibt und nicht mehr weiter kann.

Alle Wölfe sehen ihn an. Er sieht zurück. Sein Atem ist eine lange, weisse Fahne, geschwenkt in Minustemperatur. Dann knickt er ein.

Sofort fallen seine Kameraden über ihn her und fressen ihn auf.

Deshalb, glaube ich, ist die eingepackte Frau auf dem Platz sofort wieder aufgestanden.

13 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Schade, dass du so selten schreibst, mein Freund.
Deine Texte haben Klasse.
Mehr wäre mehr.

Melville hat gesagt…

danke, herr gräte. und ja, du hast recht. könnte mehr werden, jetzt, weil ich's mir quasi verordnet habe. im moment habe ich mir einiges verordnet. :)

gruss!

Anonym hat gesagt…

Lieber Melville
schön, dich wieder zu lesen. obwohl ich sagen muss, dass du mir glücklich auch ganz gut gefallen hast. zum schnellwiederaufstehen: das ist so. ich weiss noch, damals, ich vom schwindel gepackt aus dem bus gefallen bin, bin auch sogleich stolzen hauptes wieder weitermarschiert. um um die ecke gebogen zu merken, dass meine hand ganz grausig geblutet hat. nicht auszudenken, die wölfe hätten das gerochen.

Unknown hat gesagt…

Auch mir hat der Text sehr gut gefallen, Herr Melville. Meine Hochachtung! :)

Petra hat gesagt…

Nanu? Ganz ohne Hinweis andernorts?
Übrigens lasse ich das demnächst (wann auch immer) mit dem Saufen unter den geschilderten Umfällen. Mit dir aus den Latschen zu kippen, erscheint mir wenig reizvoll. Am Ende vermisse ich noch wichtige Körperteile. Ich schau Dir aber sicher gerne beim Trinken zu.

(Dass auch mir der Schrieb mal wieder ausgezeichnet und blablabla... siehe andere Kommentare.)

Anonym hat gesagt…

Exzellent.

Anonym hat gesagt…

Mit Ihren Texten, hochgeschätzter Herr Fisch im Ohr, verhält es sich wie mit den Krautfleckerln der Tante Jolesch, aber sich so rar zu machen grenzt beizeiten schon an Grausamkeit.

Mein Landsmann, der nömix, hat recht und bringt es auf den Punkt. Mehr wäre mehr.

Mehr.
Mehr!

Liebe Grüße aus Wien,
dieJulia

Melville hat gesagt…

ja franziska, zum glück haben sie dich nicht erwischt.

und danke, yalcin, und anonym, und julia, ich werd schon ganz rot.

und tja, petra, auf deine körperteile werd ich schon aufpassen. bleib aber auch gern bei der cola. und was die tradition angeht, ich dachte, ich kann ja nicht immer. smack!

Etosha hat gesagt…

Man steht schnell, sieht sich sogleich um und hofft, dass niemand sie bemerkt hat, die kurze Abwesenheit.

Etosha hat gesagt…

Steht schnell AUF. Mannmannmann. ;)

Anonym hat gesagt…

oder sie hatte nur einfach Angst vor der sozialen Komponente.
Ich meine wer wäre denn zum aufmunternedem Lecken in der Nähe gewesen.
Manchmal wäre es besser diesen part zu überspringen und gleich zum gefressen werden überzugehen

Mephistascripts hat gesagt…

Haaach, der Wörterschmied, da isser endlich wieder, suboptimal gelaunt und wemmst verbale Ursuppe raus. Wie schön. Also, der Text jetzt und das du wieder schreibst. Nicht, dass es dir suboptimal geht, natürlich.

Anonym hat gesagt…

Sehr schönes Finale. Schön im Sinne von "gelungen".