08 Februar 2007

Knutschen vs. Küssen: Platons vergessener Dialog

Folgender Text von Platon wurde 1832 von einem Weinbauern in einer antiken Urne auf Sizilien gefunden. Aus Gründen, die auszuführen den Rahmen dieser Rubrik sprengen würde, wurde er von den Kapazitäten bis heute totgeschwiegen. Ein Auszug.

CLAVIGO

SOKRATES: Sag mir, Clavigo, welches hältst du für besser: Küssen oder Knutschen?
CLAVIGO: Nun, mir scheint, es ist ganz und gar dasselbe.
SOKRATES: Dann lass uns eben dies untersuchen und festlegen, ob uns der Schein trügt oder ob er - gleich einem Spiegel - das Wahre auch wahr zu zeigen vermag.
CLAVIGO: Das würde ich gern tun, oh Sokrates. Doch ass ich eben noch ein Brot, belegt mit einer Zwiebel.
SOKRATES: Dies, Clavigo, soll unserer Untersuchung nicht im Wege stehen, da wir uns vorerst nur mit der Idee des Knutschens und selbiger des Küssens befassen werden, und wie diese beschaffen sind.
CLAVIGO: So soll es sein.
SOKRATES: Dann sage mir: Habe ich dich nicht gestern auf dem Markt gesehen, mit Makkos, dem Sohn des Herakles?
CLAVIGO: Ich leugne es nicht, Sokrates.
SOKRATES: Und habt ihr euch nicht inniglich umarmt und eure Lippen in jener nämlichen Art aufeinandergerieben und gedrückt, so dass man sagen kann, ihr hättet euch geküsst?
CLAVIGO: Ganz genau so.
SOKRATES: Aber könnte man nicht auch sagen, ihr hättet geknutscht?
CLAVIGO: Mit Fug und Recht, Sokrates.
SOKRATES: So scheinst du also recht zu behalten, dass beide Worte die selbige Idee wiedergeben.
CLAVIGO: Wie ich es sagte.
SOKRATES: Nun küsst du sicher, Clavigo, nicht nur den Sohn des Herakles?
CLAVIGO: Deine Frage wartet nicht auf eine Antwort.
SOKRATES: So küsst du also nicht nur Einen, sondern Viele?
CLAVIGO: Wie es den Göttern gefällt.
SOKRATES: Nun küsst du aber sicherlich auch deine Mutter, wie es sich geziemt?
CLAVIGO: Natürlich, Sokrates, denn ich halte sie in Ehren.
SOKRATES: Wenn wir also sagen, dass Küssen und und Knutschen das eben Gleiche ist, so folgt nicht also daraus, du hältst deine Mutter in Ehren, wenn du mit ihr knutscht?

Stille.

CLAVIGO: Aus dem Gesagten ergibt sich eben dieses. Doch kann es nicht die Wahrheit sein.
SOKRATES: So gibst du also zu, dass du den Sohn des Herakles wohl knutschen als auch küssen kannst, nicht jedoch das erstere mit deiner Mutter?
CLAVIGO: Ich gebe es zu.
SOKRATES: Wenn also alle Menschen sich wohl küssen, der Vater seine Tochter, der Bruder die Schwester, der Händler sein Geld, aber nur wenige sich knutschen - nämlich nur selbige, die sich auf des Eros' Flügel betten - ist dann also knutschen nicht seltener als küssen?
CLAVIGO: Viel seltener.SOKRATES: Und so es seltener ist, ist es dann nicht auch wertvoller?
CLAVIGO: Es ist wertvoller.
SOKRATES: Und ist nicht, was wertvoller ist, auch besser?
CLAVIGO: Ganz genau so.
SOKRATES: Da wir also bewiesen haben, dass Knutschen besser ist als Küssen, so wollen wir nun das eine tun und das andere lassen.

Qed.: Knutschen ist besser als küssen.

Und ihr werdet es nicht glauben: Von genau diesem entzückenden Wort bin ich offizieller, lebenslanger Pate. Mit Urkunde. Was glaubt ihr, wie stolz ich bin.

11 Kommentare:

Petra hat gesagt…

Knutschen vs. Küssen andernorts und zudem recht alt.

Anonym hat gesagt…

Du wirst lachen. Ich habe letzte Woche das Wort "vollkommen" reserviert.

Anonym hat gesagt…

Du heißt wirklich "Melville"? Ich dachte das sei ein Künstlername oder so was.

Melville hat gesagt…

uwe, man kann selber entscheiden, unter welchem Namen man dort aufgelistet wird.

Unknown hat gesagt…

Warum hast du das substantivierte Verb ausgesucht? *g*

gloomy hat gesagt…

Hey, wenn du schon Bilder vom Fabian klaust, könntest du ihn wenigstens verlinken :)

Melville hat gesagt…

hey gloomy, gibt mir den link. ich hab das bild einfach von google.

gloomy hat gesagt…

Was ein Zufall. Bitte sehr:
http://www.fabian-siegismund.de/blog/

Ist nämlich ein guter Bekannter bzw. Kollege vom Schmitzchen. Könnte mir vorstellen, dass du an seinem Blog auch Freude hast, die Beiden sind nämlich total auf einer Wellenlänge.

Fabian hat gesagt…

Haha, was für ein lustiger Zufall! Bin gerade von Gloomy auf Deinen Eintrag hingewiesen worden.
Ich krieg öfters mal Google-Referrer mit »knutschende Mädchen« oder ähnlichem, jetzt kenn ich endlich auch mal einen von den Perverslingen. Ich sollte hier öfters vorbeischauen. Ist schön hier.

Das Bild gab's bei mir übrigens hier. Links Tonia, rechts Ina, im Hintergrund mittig ich. Aber das übersieht man gerne.

Petra hat gesagt…

Siegismund! Ich bin entsetzt, dass du Gloomys 'guter Bekannter' nicht richtig gestellt hast. Ein schöner Freund bist du! Ich wünsche dir eine lebenslange Patenschaft für das Wörtchen 'Fettbemme'. Haha...
Sorry, Melville, für das dezente OT-Gejammer.

Anonym hat gesagt…

Lieber Herr Melville, das ist ein ausnehmend schöner klassischer Text. Ich glaube ich kenne die Gründe für die lange Nichtveröffentlichung: der Beweis enthält mehrere Fehler.
Zunächst ist der erste Teilbeweis, nämlich dass Küssen nicht gleich Knutschen ist, richtig: Knutschen ist eine Teilmenge von Küssen, ersteres somit ein Spezialfall. Wenn Clavigos mit Makkos knutscht, küsst er ihn also zugleich. Küsst er seine Mutter, knutscht er nicht notwendigerweise mit ihr, was aber zumindest möglich wäre (war wohl eine Anspielung auf die Ödipus-Sache).

Der zweite Teilbeweis ist allerdings in zweierlei Hinsicht fragwürdig. Zunächst wird von der Häufigkeit einer Sache auf deren Wert geschlossen. Aber gibt es nicht auch viele Kisten, Kästchen, Dosen und Büchsen, aber nur eine der Pandora; und ist diese deshalb wertvoller? Oder gar besser? Der Wert ergibt sich also nicht nur aus der Knappheit einer Sache, sondern auch aus der Nachfrage danach.

Und da sind wir beim zweiten Grund für die Fragwürdigkeit des Beweises - er liegt in der Methode. Der Induktivbeweis an sich ist richtig:

jeder Mensch küsst n andere Menschen,
und
jeder Mensch knutscht m andere Menschen.

Wenn m < n für einen Menschen gilt, gilt m < n für alle, also Knutschen ist seltener als Küssen.

Aber das sollte ja gar nicht bewiesen werden. Es sollte bewiesen werden, dass es besser ist. Das wird jedoch nur behauptet (mit dem Umweg über "wertvoll", das, wie oben gezeigt, ebenfalls nur eine Behauptung ist), und damit nicht bewiesen.

Vielleicht hat das Totschweigen des Dialogs natürlich auch etwas profanere Gründe...

Aber mal im Ernst - der Text hat mir auf Anhieb richtig gut gefallen. Super gemacht.