14 September 2010

Die Todeself

Im Rahmen meiner blogtechnischen Wiederauferstehung werde ich hier von Zeit zu Zeit einen der für Fooligan verfassten Blogtexte nachführen, die nicht mehr online sind. Heute:


DIE TODESELF

Effizienz war das geringste Problem. Am 19. September 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht in Kiew ein. Kaum 48 Stunden später hatten die Gäste 34 000 Juden umgebracht, eine halbe Million russische Soldaten in Kriegsgefangenenlager gesteckt und fingen bereits an, sich zu langweilen.

Zur allgemeinen Unterhaltung und Lockerung der angespannten Atmosphäre organisierten die Deutschen Fussball-Turniere. Das funktionierte so: Ein Team von gut durchtrainierten, wohlernährten Elite-Soldaten trat gegen eine Auswahl ausgehungerter, von den Entbehrungen des Kriegs gezeichneter Ukrainer an und demütigte diese, stellvertretend für die gesamte einheimische Bevölkerung, bis aufs Blut.

Ein Schatten aus Stahl und Tod hatte sich über das Land gelegt, und niemand vermochte ihm die Stirn zu bieten. Bis, eines Tages…

Ja, bis eines Tages die Betriebsmannschaft der Bäckerei Nr.1 auf den Plan trat.

Wie ein Lauffeuer machte die Nachricht die Runde. Die Bäcker aus Kiew hatten den Spiess umgedreht! Die Bäcker aus Kiew spielten wie die leibhaftigen Teufel! Die Bäcker aus Kiew gewannen ein Spiel nach dem anderen!

Der FC Start zahlte es den Deutschen heim!

Den Besatzern gefiel diese plötzliche Wendung der Dinge gar nicht. Sie setzten eine bisher ungeschlagene Flak-Elf auf die Bäcker an. Gute, schnelle, knallharte Jungs. Die Bäcker konnten nicht gewinnen. Die Bäcker gewannen 5:1.

Auch den Deutschen war längst klar, dass es hier um mehr als nur Fussball ging. Hier ging es um die Wirbelsäule eines niedergeknüppelten Volks. Die sich langsam, aber sicher wieder aufrichtete.

Also proklamierten sie ein Revanche-Spiel. Plötzlich hingen überall in Kiew Ankündigungen für die Partie; auf dem gleichen Papier, auf dem sonst die Erlasse publiziert wurden. Die Deutschen legten sich mächtig ins Zeug, stellten aus ihren Reihen die bestmöglichste Mannschaft zusammen und begannen sofort mit dem Training.

Und natürlich versuchten sie in Erfahrung zu bringen, warum zum Henker diese Bäcker so gut spielten. Sie setzten ihre Spitzel darauf an und fanden es heraus. Was sie hörten, gefiel ihnen gar nicht.

Hinter der Betriebsmannschaft der Bäckerei Nr. 1 steckten die Profi-Spieler der damals schon legendären Kiewer Fussballklubs Dynamo Kiev und FC Lokomotive. In den wirren Kriegszeiten hatten sie Asyl in der Brotfabrik gefunden. Top-Leute. Profispieler. Die Sahne der einheimischen Fussball-Elite.

Deshalb waren die Bäcker so gut.

Die Deutschen schäumten vor Wut und setzten einen SS-Mann als Schiedsrichter ein, der vor der Partie die Mannschaftskabine des FC Start betrat und die Spieler dazu aufforderte, erstens den deutschen Gruss formgerecht zu erwiedern und zweitens das Spiel zu verlieren. Ansonsten müsse man mit unliebsamen Konsequenzen rechnen. Wenn sich unter den Herren Spielern jemand befinde, der sich diesen zwei Bedingungen nicht gewachsen fühle, stehe es ihm selbstverständlich frei, zu gehen.

Der FC Start lief geschlossen auf. Das Zenit-Stadion war ausverkauft, die Stimmung war bedrohlich, und es wimmelte von SS-Männern und Schäferhunden; trotzdem waren Zehntausende gekommen. Viele von ihnen ahnten, dass es vielleicht die letzte Möglichkeit sein könnte, ihre Helden bei der Arbeit zu sehen. Als die Spieler des FC Start mit extra organisierten roten Trikots den Rasen betraten und den deutschen Gruss mit dem traditionellen Gruss des kommunistischen Sports beantworteten, stand die Menge auf wie ein Mann und presste die Faust an die Brust.

Das war nicht mehr Flak-Elf gegen Bäckerei Nr.1. Das war Deutschland gegen die Sowietunion.

Die Deutschen foulten unter den Augen des SS-Schiedsrichters, wo sie nur konnten und traten den gegnerischen Torwart bewusstlos. Trotzdem schossen die Bäcker ein Ding nach dem anderen. Das einheimische Publikum tobte und geriet derart in Ekstase, dass sich Nesthäkchen Klimenko, der bereits Verteidiger und Torhüter ausgespielt hatte, dazu hinreissen liess, den Ball auf der Torlinie zu stoppen und – statt ins Netz - zurück ins Spiel zu pfeffern.

Das Spiel war eine Ohrfeige für die Deutschen: Die Bäcker gewannen 5:3 und wurden zu Symbolen des Widerstands.

Zehn der elf Sieger wurden von der Gestapo verhaftet. Einer von ihnen wurde zu Tode gefoltert, die anderen ins Lager Siretz deportiert. Dort wurden die drei Beliebtesten von ihnen exekutiert, unter ihnen auch Nesthäkchen Klimenko.

Ein Zusammenhang zwischen ihrem Tod und dem gewonnenen Fussballspiel wird allerdings bis heute von rechtsgerichteten Kreisen bestritten und kann auch tatsächlich nicht erschöpfend nachgewiesen werden.

Wer sich eingehender mit dieser Geschichte beschäftigen will, der lese das Buch des Scorsese- und De Niro-Biographen Andy Dougan: Dynamo: Defending the Honour of Kiev

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Danke für den Artikel.