
CLAVIGO
SOKRATES: Sag mir, Clavigo, welches hältst du für besser: Küssen oder Knutschen?
CLAVIGO: Nun, mir scheint, es ist ganz und gar dasselbe.
SOKRATES: Dann lass uns eben dies untersuchen und festlegen, ob uns der Schein trügt oder ob er - gleich einem Spiegel - das Wahre auch wahr zu zeigen vermag.
CLAVIGO: Das würde ich gern tun, oh Sokrates. Doch ass ich eben noch ein Brot, belegt mit einer Zwiebel.
SOKRATES: Dies, Clavigo, soll unserer Untersuchung nicht im Wege stehen, da wir uns vorerst nur mit der Idee des Knutschens und selbiger des Küssens befassen werden, und wie diese beschaffen sind.
CLAVIGO: So soll es sein.
SOKRATES: Dann sage mir: Habe ich dich nicht gestern auf dem Markt gesehen, mit Makkos, dem Sohn des Herakles?
CLAVIGO: Ich leugne es nicht, Sokrates.
SOKRATES: Und habt ihr euch nicht inniglich umarmt und eure Lippen in jener nämlichen Art aufeinandergerieben und gedrückt, so dass man sagen kann, ihr hättet euch geküsst?
CLAVIGO: Ganz genau so.
SOKRATES: Aber könnte man nicht auch sagen, ihr hättet geknutscht?
CLAVIGO: Mit Fug und Recht, Sokrates.
SOKRATES: So scheinst du also recht zu behalten, dass beide Worte die selbige Idee wiedergeben.
CLAVIGO: Wie ich es sagte.
SOKRATES: Nun küsst du sicher, Clavigo, nicht nur den Sohn des Herakles?
CLAVIGO: Deine Frage wartet nicht auf eine Antwort.
SOKRATES: So küsst du also nicht nur Einen, sondern Viele?
CLAVIGO: Wie es den Göttern gefällt.
SOKRATES: Nun küsst du aber sicherlich auch deine Mutter, wie es sich geziemt?
CLAVIGO: Natürlich, Sokrates, denn ich halte sie in Ehren.
SOKRATES: Wenn wir also sagen, dass Küssen und und Knutschen das eben Gleiche ist, so folgt nicht also daraus, du hältst deine Mutter in Ehren, wenn du mit ihr knutscht?
Stille.
CLAVIGO: Aus dem Gesagten ergibt sich eben dieses. Doch kann es nicht die Wahrheit sein.
SOKRATES: So gibst du also zu, dass du den Sohn des Herakles wohl knutschen als auch küssen kannst, nicht jedoch das erstere mit deiner Mutter?
CLAVIGO: Ich gebe es zu.
SOKRATES: Wenn also alle Menschen sich wohl küssen, der Vater seine Tochter, der Bruder die Schwester, der Händler sein Geld, aber nur wenige sich knutschen - nämlich nur selbige, die sich auf des Eros' Flügel betten - ist dann also knutschen nicht seltener als küssen?
CLAVIGO: Viel seltener.SOKRATES: Und so es seltener ist, ist es dann nicht auch wertvoller?
CLAVIGO: Es ist wertvoller.
SOKRATES: Und ist nicht, was wertvoller ist, auch besser?
CLAVIGO: Ganz genau so.
SOKRATES: Da wir also bewiesen haben, dass Knutschen besser ist als Küssen, so wollen wir nun das eine tun und das andere lassen.
Qed.: Knutschen ist besser als küssen.
Und ihr werdet es nicht glauben: Von genau diesem entzückenden Wort bin ich offizieller, lebenslanger Pate. Mit Urkunde. Was glaubt ihr, wie stolz ich bin.